Maria Montessori beobachtete während ihrer Arbeit, dass es in der kindlichen Entwicklung Phasen gibt, in denen das Kind für ganz bestimmte Erfahrungen besondere Offenheit zeigt. Diese Phasen nannte sie „sensible Phasen“, in denen das Kind seine Aufmerksamkeit auf ausgewählte Bereiche seiner Umgebung fokussiert. Während der sensiblen Phase gelingt es dem Kind, mit Freude und ohne große Anstrengung in einem Bereich zu lernen und bestimmte Fähigkeiten zu erlangen. Oft hat das Lernen in diesem Moment einen spielerischen Charakter und geschieht häufig sogar unbewusst. Ist dieses Zeitfenster vorbei, können bestimmte Lerninhalte nur mit viel Mühe und Anstrengung erschlossen werden. Man kann sich eine sensible Phase wie ein Fenster vorstellen, dass für eine kurze Zeit geöffnet ist und der Zugang zu Wissen und den Erwerb neue Fähigkeiten enorm erleichtert wird. Aufgabe der Lehrkraft ist es in diesem Moment, die sensiblen Phasen eines Kindes genau zu beobachten, um passende und individuelle Lernangebote machen zu können. Signale für eine sensible Phase können zum Beispiel das Interesse an einem Montessori- Material im Regal oder der Versuch, Schrift auf einem Papier „nachzuahmen“ sein. Jede sensible Phase ist von vorübergehender Dauer und hilft dem Heranwachsenden, bestimmte Fähigkeiten zu erwerben. Ist dies geschehen, wird die entsprechende Empfänglichkeit wieder abklingen. Maria Montessori machte noch eine weitere interessante Beobachtung: Jedes Kind entwickelt sich nach seinem inneren Rhythmus, lernt und arbeitet nach seinem individuellen, inneren „Bauplan“. Sie fasste die sensiblen Phasen in vier großen Zeiträumen zusammen. Dabei fand sie heraus, dass diese zu verschiedenen Zeitpunkten beginnen und unterschiedlich lang sein können:
1. Phase – Zeit des Aufbaus (0-6 Jahre) – Kinderhaus
Montessori spricht in dieser Phase vom „absorbierenden Geist“. In dieser Phase ist das Kind besonders sensibel für die motorische Entwicklung, der Sensorik, der Sprache und des Ordnungssinns. Die vorbereitete Umgebung sowie der Tagesablauf bieten dem Kind enstprechende Anreize zum Lernen. Das Kind entdeckt Materialien, die es in seiner motorischen, aber auch sprachlichen Entwicklung unterstützen werden. Andere Materialien sind zum Beispiel speziell auf die Schulung der Sinne abgestimmt.
2. Phase – Zeit des Ausbaus (6-12 Jahre) – Schulzeit
In der zweiten Entwicklungsphase ist das Kind besonders empfänglich für Erfahrungen in seiner realen Lebenswelt. Es lernt, zu verallgemeinern, entwickelt moralisches Bewusstsein und wird zunehmend sensibler für neue soziale Beziehungen. Kinder beschäftigen sich in diesem Entwicklungsabschnitt mit Zusammenhängen der Welt und versuchen, im Zusammenleben in der Gemeinschaft zwischen „Gut und Böse“ zu unterscheiden. Im Schulalltag gewinnt das fächerübergreifende Lernen eine hohe Bedeutung, das Kind lernt vor allem mit realen Materialien, so dass es neue Erkenntnisse noch besser auf die Wirklichkeit übertragen kann. Auch das soziale Lernen in altersgemischten Gruppen steht in dieser Entwicklungsphase im Vordergrund.
3. Phase – Zeit des Umbaus (12-18 Jahre) – Erdkinder
In dieser Phase zeigt der Heranwachsende, dass er sein Selbstvertrauen durch eigenes Handeln und Tun weiterentwickeln möchte, aber auch das Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit in einer sozialen Gruppe hat. Besonders sensibel ist der Heranwachsende in dieser Phase für Gerechtigkeit und Menschenwürde, soziale und gesellschaftliche Prozesse, wissenschaftliche Erkenntnisse und zeigt politische Verantwortung.
4. Phase – (18-24 Jahre) – Erfahrungsschule des Sozialen Lebens
Die vierten Entwicklungsphase beschreibt die weitere Reifung der Persönlichkeit des Jugendlichen. Es wird dem Heranwachsenden gelingen, begründete Entscheidungen zu treffen und sich den Konsequenzen bewusst zu sein, die eine getroffene Entscheidung nach sich ziehen kann. Der Heranwachsende nutzt erworbene Erkenntnisse, um für sich selbst und später für die eigene Familie zu sorgen.
Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns so alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister seiner selbst! – Maria Montessori